Was ist Organisierte Halbbildung?

Von Lisa Marie Münster

Wer ein Theaterstück zur Hälfte aufführt, realisiert nicht die Hälfte seines Gehaltes, sondern lässt es sinnbefreit verklingen. In diesem Sinne will der Soziologe, Philosoph und Vertreter der Kritischen Theorie Theodor W. Adorno seine »Theorie der Halbbildung« verstanden wissen. Denn sie ist keine verkürzte, keine halbe Version von Bildung, sie ist ihre Verkümmerung. Und nach unserer – der Herausgeber*innen – Auffassung heute im neoliberalen Universitätssystem nicht nur allgegenwärtig, sondern ihrer Form nach vor allem eines: organisiert. Das Organisierte findet sich im Bildungssystem selbst, in der Struktur und Ordnung der Universitäten, in Inhalt und Gestaltung des Studiums, im Inneren der Studierenden. In der Wortwahl des Organisierens wird die dahinterliegende Absicht, der technische Charakter dieser Entwicklung deutlich greifbar.

1959 sah Adorno beim Verfassen seines Textes Halbbildung als charakteristische »Signatur des Zeitalters«, die die Entwicklung der Bildung zur Halbbildung umfassen sollte (Adorno 2003a: 102). Seitdem sind die Bildungssysteme einem grundlegenden Wandel hin zu einer neoliberalen Struktur unterzogen worden, der für das Studium seinen Höhepunkt in der Bologna-Reform erreichte. Was spätestens mit der Reform wortwörtlich verkauft wurde und in weite Ferne gerückt ist, ist Bildung in ihren viel zitierten und wenig praktizierten Ansprüchen der Autonomie, Mündigkeit und Vernunft, die aus der Zeit der Aufklärung stammen. Adorno hat dieses Nichteinlösen schon 1959 diagnostiziert und geht darüber hinaus davon aus, dass die Aufklärung nie ihrem eigenen Ideal entsprach, so in ihrer Konsequenz nie zu einer von Zwecken befreiten Bildung führen konnte. Aber: hätte führen können. Die Gegenwart verwehrt uns wahre Bildung; der Konjunktiv lässt ihre Existenz denken und beherbergt somit ihre eigene Emanzipation: Es ist Zeit, »an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog« (ebd.: 121).

So stellt auch dieser Text den Versuch dar, sich anhand von Adornos »Theorie der Halbbildung« seinem Verständnis von Bildung anzunähern – so, wie sie hätte sein können, aber nie wurde. Dafür benötigt es den Blick auf die aktuelle Entwicklung von Bildung und den Ort, in dem die Ideale der Bildung wie Autonomie und Freiheit noch immer rezipiert werden: die Universität. Sie prägt das Leben von Millionen Menschen. Die Organisation des Studiums ist heute entscheidend durch den 1999 angestoßenen Bologna-Prozess geprägt, der von Bildungsminister*innen aus ganz Europa beschlossen und auf nationalstaatlicher Ebene umgesetzt wurde und wird. Dementsprechend geht es im Folgenden vor allem um die Betrachtung des deutschen Universitäts- und Studiensystems.

Dieses Vorhaben verlangt eine Systematik, die entgegen den akademischen Standards nicht durch die Beschreibung dessen vorgenommen wird, was der Text liefert, wo er einzuordnen und wie er zu lesen ist, sondern durch ihr Gegenteil. Dieser Text ist kein Reformpapier, keine Lösung, keine vollständige Analyse oder die Antwort auf eine Krise. Er ist in seiner Existenz der Versuch, sich an die Realität von Studierenden anzunähern. Er ist ein Vorwagen, ein erschriebenes Denken, im Glauben, dass »das Falsche, einmal bestimmt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist« (Adorno 2003b: 793). Diesem Anspruch folgend bleibt zur Intention der Herausgabe dieses Sammelbandes und der Formulierung der Diagnose der Organisierten Halbbildung nur eines zu sagen: Wir wollen eine Bildung, die nie war.

Zugleich stellt sich dieser Text in seinem Unvermögen, Bildung in ihrem Wesen ganz zu bestimmen, gegen die Prinzipien der Halbbildung selbst, die Begriffe durch Kategorisierung, Begrenzung und Definitionswut ihrer Wahrheit entreißt. Denn der »Prozeß der Klärung und Bestimmung der Begriffe ist nicht etwas, was der Erkenntnis vorangeht«, sondern er geschieht, indem Menschen »die Begriffe selber auf Gegenstände anwenden und Akte der urteilenden, inhaltlichen Erkenntnis selbst vollziehen« (Horkheimer 1985: 410). Diese Herangehensweise ist keine Absolution für die eigene Unzulänglichkeit oder die Kapitulation vor der scheinbaren Unmöglichkeit des Findens von Wahrheiten. Sie ist eine Aufforderung, sich immer wieder, immer neu, immer anders, unaufhörlich, nie ruhend, dem annähern zu wollen, was unbegreiflich erscheint und dabei den klaren Antworten, allem Absoluten zu misstrauen.

So ist Halbbildung nicht durch die steigende Anzahl von Studierenden, die damit einhergehende Akademisierung der Arbeitswelt und Differenzierung der Arbeitsteilung, die wachsende Zahl von Studiengängen oder den erweiterten Zugang zu Wissen zu erfassen, all diese Phänomene sind nur Konsequenz, sie beschreiben die Oberfläche. Sich dem Wesen der Halbbildung anzunähern, geschieht in diesem Text nicht über den allgegenwärtigen Fetisch für Zahlen und Vermessungen, sondern ausgehend von den Lebensrealitäten von Studierenden. Dabei ist es schwer, das Leben von aktuell drei Millionen Menschen an deutschen Universitäten und Hochschulen zu umfassen, unmöglich, jedes einzelne davon sichtbar zu machen, ihm in Gänze nahezukommen. Besser als in den folgenden Zeilen geschieht dies in diesem Buch an sich, in seiner Aneinanderreihung, Verknüpfung, Überschneidung und Widersprüchlichkeit.

Das studentische Individuum ist heute fragmentiert in seine Kompetenzen, es lernt entlang von Modulen, Leistungspunkten und Prüfungen. Die traditionellen Ansprüche der Bildung sind zu einem Pausbild ihrer Bedeutung verkommen, heißt Vernunft im Studium doch die effiziente Planung der Karriere und Freiheit, zwischen Studiengängen, zwischen Veranstaltungen zu wählen oder Prüfungen in das nächste Semester zu schieben. Eine Scheinfreiheit, führen diese Entscheidungen doch immer direkt zu Belohnung oder Bestrafung durch die Universität oder die Gesellschaft. Wer zu lange studiert, der*dem wird ›Faulheit‹ unterstellt, der*dem wird die finanzielle Unterstützung des Staates (BAföG) entzogen. Wer bei den ›richtigen‹ Dozierenden im Kurs sitzt, bekommt die Jobs angeboten, die Abschlussarbeit betreut oder Zugang zu wichtigen Netzwerken, wenn es um die (akademische) Laufbahn geht. Das ›eigene‹ Versagen, das Nicht-Können, Nicht-Wollen, die schlechte Note wie der falsche Studiengang sind in dieser Logik nie strukturell zu begründen, das wäre ja eine Ausrede. Sie sind individuell zu verorten, die Verantwortung trägt der einzelne Mensch – stehen ihm doch alle Türen offen, hat er doch alle Chancen, flüstert die Welt. Halbbildung ist ein zu erwerbender, egoistischen Zwecken unterworfener Wert, der durch Prestige von Institutionen, von Abschlüssen, Zertifikaten und Auszeichnungen, scheinbar jedem Menschen zugänglich ist. Ihr neoliberales Credo ist, dass jede*r ihres*seines eigenen Glückes Schmied*in ist, der Gedanke dahinter: ›Du bist, was du leistest. Du bekommst, was du verdienst. Du kannst alles schaffen, wenn du willst.‹ Die Ökonomisierung der Universität greift in alle ihre Subjekte und Räume hinein, verspricht Anerkennung, belohnt diejenigen, die schneller, höher, besser sind. Verloren dabei ist, dass das Studium »zur reicheren Entfaltung der menschlichen Anlagen, zu einer angemessenen Erfüllung der eigenen Bestimmung die Gelegenheit« bieten soll, wie der Sozialphilosoph und Weggefährte Adornos Max Horkheimer 1952 in seiner Immatrikulationsrede erklärt (Horkheimer 1985: 409). »Gebildet wird man nicht durch das, was man ›aus sich selbst macht‹, sondern einzig in der Hingabe an die Sache, in der intellektuellen Arbeit sowohl wie in der ihrer selbst bewußten Praxis.« (Ebd.: 415)

Im Studium heute ist (fast) kein Platz, die eigene Persönlichkeit, individuelle Fähigkeiten und Interessen, fernab von Zielen und Zwecken, getrennt von Karrieren und Prestige zu finden, zu formen. Aber war dafür jemals Platz?

Was ist das Organisierte an der Halbbildung?

Die Universität galt und gilt immer noch, immer wieder als Ort, an dem sich Menschen zu mündigen, autonomen und vernünftigen Individuen entwickeln könnten. Und diese Idee hält sich hartnäckig: Hängt dem Studium doch noch immer der Ruf nach, sich in dieser Zeit entfalten, finden und erfahren zu können. Ältere Generationen wie feuilletonistische Debatten verweisen gerne auf ein verklärtes und verklärendes ›Früher‹, in dem die Universität als Ort der Freiheit und das Studium als Weg zur Selbstverwirklichung gezeichnet ist. Beides war nie mehr als eine Phantasiegestalt. Was sich dennoch geändert hat, ist das Ausmaß der Organisation, deren Vorschriften, Prinzipien, Konventionen und Normen das Dürfen, das Wollen, das Können regulieren. Nicht nur das Studium an sich, auch jede Idee, jede Möglichkeit, jede Planung, jeder Traum ist gelenkt, begrenzt durch bürokratische Vorgaben und gesellschaftliche Zwänge.

Das Organisierte der Halbbildung ist auf drei Ebenen zu finden: in den Strukturen, in denen sich Studierende bewegen; in den Inhalten, die sie in Seminarplänen und Vorlesungsskripten vorfinden; in ihrem eigenen Inneren. Diese Dreiteilung suggeriert eine Unabhängigkeit der Ebenen, die nicht existiert. Das Organisierte spannt ein Netz, dass sich immer enger um Studierende legt – die Maschen werden kleiner, die Nischen und Räume, das Raus immer weniger. Der Druck der Anpassung erstickt das Eigene, das Andere, nimmt die Luft zum Atmen.

Diese drei Ebenen sind zu beschreiben, können also per Aufzählung erfasst und doch nicht begriffen werden: Die Struktur der Universität ist durch ihren in jedem Moment bestimmenden Zweck gekennzeichnet, sie ist immer zielgerichtet organisiert. Die Räume werden gebucht, belegt, zugeteilt; rausgeschmissen wird, wer in sie geht und nicht angemeldet ist. Der Charakter des Campus ist verwaltet, besiedelt durch Dienstleistungen – er wird geplant, bewacht, bekocht und sauber gehalten; sogar das Stickern und Flyern ist gelenkt – die Lampen bestehen aus Material, das den Kleber der Sticker abweist und die Orte für Flyer sind durch Klebeband markiert. Aber die Ordnung des Ortes ist nur die Oberfläche. Denn auch die Ordnung der Universitäten untereinander ist organisiert: Sie konkurrieren länder- und kontinentübergreifend um Gelder, Prestige und Exzellenz, kämpfen um neue Studierende und renommierte Professor*innen, initiieren und erhalten Preise und Auszeichnungen, geben sich Leitbilder und Profile, erfinden Slogans und schalten Werbung. Diese – so die wissenschaftliche Beschreibung, der Universitäten nicht einmal widersprechen – ›unternehmerische Hochschule‹ folgt der Idee, dass Studierende Kund*innen sind. Und bietet ihnen ein Rundum-sorglos-Programm an: Das Career-Center und die Berufsmessen erzählen, welche Karrieren anzustreben sind, welche Fähigkeiten (›Skills‹) dafür erlernt und verlernt müssen, wie die Zukunft zu managen ist und vergeben Visitenkarten an die aussichtsreichsten Kandidat*innen. Es gibt für alles Programme – zum Austausch, für die Psyche, die bessere Planung, für Frauen, für Talente. Ihr Motto: Orde dich ein, nimm teil, werde besser. Um zu wissen, wo Studierende gerade stehen, was sie zu brauchen haben, was ihr Ziel sein sollte, teilt die Universität ihr Leben in den Student-Life-Cycle ein. Damit sollen Studierende schnell und unauffällig durchs Studium gleiten, die Universitäten wenig kosten, mit ihrem Abschluss aber vorzeigbar werden, wie der Beitrag »Das geleitete Studium« in diesem Sammelband zeigt. Diese durchdringende Organisiertheit der universitären Struktur ist selbst Ergebnis der Halbbildung, die rationalisiert, plant, beschränkt. Gleichzeitig setzt sie die Leitplanken für die Entwicklung der zukünftigen Halbbildung, um deren Abläufe, Wege und Richtungen streng zu lenken.

Die Idee, dass Studierende wie Kund*innen zu behandeln sind, endet noch lange nicht bei den offensichtlichen Dienstleistungen der Universität. Sie ist erst recht im Studium selbst zu erkennen: Die Inhalte werden portioniert, vorgekaut, entlang des Kriteriums ›prüfungsrelevant‹ sortiert. Hunderte von Folien sammeln sich auf den Festplatten der Studierenden, während die darauf zu lesenden Definitionen, Formeln und Erklärungen durch das Bulimie-Lernen nur für kurze Zeit in den Köpfen bleiben. Das Studium ist streng geplant, festgehalten in Modulhandbüchern, Seminarplänen, Erinnerungs-Apps, kontrolliert durch das universitäre Qualitätsmanagement, das die Inhalte auf ihre Verwertbarkeit hin überprüft. Jede Entscheidung unterliegt detailliert durchgetaktet einem Zweck: Es gilt, das richtige Seminar zu wählen, die Module abzuschließen, die Zwischenschritte der Prüfungen und Abgaben zu erfüllen, die Punkte zu sammeln, den Abschluss zu erlangen. Und dabei immer den Erwartungen wie der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein. Alles – so die Idee –, um das oberste Ziel zu erreichen: Lohnarbeit. Denn all die Mühen und Kosten des Einzelnen sind nur Teil der Gleichung, nach dem Studium den lang ersehnten und gründlich vorbereiteten (im besten Fall schon in der zweiten Klasse im Freund*innenbuch festgehaltenen) Beruf ergreifen zu dürfen, der idealerweise auch die eigene Berufung ist. So ist der Erhalt des Zeugnisses nur der erste Schritt ins ›richtige‹ Leben – welcher Hohn, der Studierenden unterstellt, davor wären sie nicht mit dem ›richtigen‹, dem ›erwachsenen‹ Leben konfrontiert. Dieser Sammelband zeigt das Gegenteil, offenbart die Kämpfe von Studierenden.

Wer all diese Regeln und Ansprüche bedenken, befolgen und erfüllen muss, der ist dazu verdammt, sein Leben, sein Selbst in Präzision zu planen. So perfektionieren Studierende das Organisieren bis in ihr Innerstes. Ihr Maßstab für das gewissenhafte, fleißige Studieren sind die ordentlich aufgereihten Stifte, Bücher mit Lesezeichen, säuberlich gespeicherte, markierte Folien und beschriftete Ordner auf den Laptops oder in der Früh um fünf Uhr beginnende ›Morgenroutinen‹. Während Videos mit Millionen Aufrufen zeigen, wie fleißig gelesen, unterstrichen, sortiert, gelernt wird, die ›Bib-Bags‹ durchsichtig werden und so für alle Inhalt und Ordnung zur Schau stellen, ist der unter alledem liegende Kummer unsichtbar. Studierende verzweifeln in ihrem Inneren – abzulesen an den immer weiter steigenden Zahlen von psychisch erkrankten Studierenden, wie der Beitrag zu psychischer Gesundheit »Wenn der Verbleib im System am Einzelnen hängt« in diesem Sammelband deutlich zeigt. Doch auch die Psyche wird zum zu bewältigenden Umstand, der kategorisiert wird: Schlafen und Aufstehen, Lernen und Ordnen, Stress und Aufgaben – für alles gibt es eine Typisierung und Anlaufstelle. Es ist (überlebens-)wichtig, dass Menschen Hilfe erhalten, um Unterstützung bitten können, sich an Expert*innen wenden können. Würde dies dem Einzelnen dienen, seiner*ihrer Gesundheit und Lebensbedingungen, wäre daran nichts auszusetzen. Aber die an der Universität angebotenen Anlaufstellen zielen auf die Integration der Studierenden, auf ihr Weitermachen, ihr Bleiben, ihr Bestehen, ihr Funktionieren. Die Abbruchquoten dürfen nicht steigen, die Regelstudienzeit nicht überschritten werden, die Notenspiegel müssen vorzeigbar sein. Studierenden lastet die Gleichzeitigkeit an, als Kund*innen einen Service zu erhalten, der sie selbst zu funktionierenden Zahlen in den Bilanzen der Institutionen macht. Und darin dürfen sie kein Fehler, kein Ausfall, kein Versagen sein. Also ist selbst das Scheitern geordnet und in Abstufungen unterteilt, vollzieht sich durch die Zwänge der Integration schleichend: (Potenzielle) Studierende scheitern am Numerus Clausus, der Aufnahmeprüfung, an den ersten Klausuren, dem dritten Versuch, den zu erreichenden Punkten, der falschen Anmeldung, den Abschlussprüfungen. Dadurch gibt es keine zu erreichende Sicherheit, jedes Semester, jeder Kurs, jede*r Dozent*in bestimmt aufs Neue über das eigene Scheitern oder Durchkommen, vielleicht sogar ›Gewinnen‹. Das erste Scheitern, auch das zweite ist noch nicht das Ende, das neoliberale Leistungsprinzip hat das Scheitern zur ›Chance‹ und ›Herausforderung‹ umgedeutet, an der das Individuum zu wachsen hat: Wer fällt, steht wieder auf, manifestiert die Ziele, verbessert sein Selbst, geht immer weiter weiter weiter.

Das Organisierende rieselt von oben nach unten, die Struktur der Universität in die Gestaltung der Veranstaltungen in die Planung des Studiums in die Terminkalender der Studierenden; von unten nach oben, vom Erfolg der Studierenden zur Offenlegung der Noten Einzelner in die zu erfüllenden Vorgaben im Studium bis hin zur Bestplatzierung der Universitäten in den internationalen Rankings. Unsichtbar sind dabei die Zusammenhänge ebenso wie der Zwang, sich dem zu unterwerfen. Das Individuum steht der Organisiertheit in Ohnmacht gegenüber, folgt dem Flüsterton der Zwänge, ohne diesen Gehorsam zu einer bewussten Entscheidung machen zu können. Sich herauszulösen, überhaupt zu lösen, kostet. Manchmal ist der Preis fehlende oder aberkannte Anerkennung, oft genug lauert dahinter die Gefahr, in finanzielle oder psychische Not zu geraten.

Dass das eigene Überleben an die individuelle Leistung gebunden ist, ist Folge des Diktats der Ökonomie. Als Adorno Ende der 1950er Jahre die Halbbildung als gegenwärtigen Geist der Bildung beschrieb, charakterisierte er sie als verdinglicht. Das bedeutet: Ihr Entstehen und Fortwirken ist untrennbar mit der kapitalistischen Gesellschaft verbunden, in der alles finanziellen Interessen untergeordnet ist. Und diese verdinglichte Bildung – die Halbbildung – besteht aus zweckhaften Bildungsgütern. Sie ist heute fortgeschritten, in ihrem Zugriff auf jedes Leben und jedes Individuum entgrenzt. Das zu sehen, zu erkennen, oft genug zu spüren, könnte bedeuten, sich dem entziehen zu wollen. Und doch ist dieser Wille als vereinzelter zum Scheitern verurteilt, lauern die Sanktionen doch immer an der nächsten Ecke. Adorno attestierte bereits 1966 besonders jungen Menschen einen übermäßigen Realismus, der auf die immense Wucht des Anpassungsprozesses hindeutet, der so »maßlos forciert wird von der gesamten Umwelt, in der die Menschen leben«, dass Menschen »die Anpassung gleichsam sich selber schmerzhaft antun, den Realismus sich selbst gegenüber übertreiben und […] sich mit dem Angreifer identifizieren« (Adorno 2019: 110). Der Angreifer ist der Zwang, der zum eigenen Willen umgedeutet wird: Je fleißiger, desto näher die ersehnten Träume. So wird die Belastung im Studium, die Länge der To-do-Listen, die Fülle des Terminkalenders zum Merkmal der Leistung und Anstrengung; die Menschen sind »stolz auf [ihre] Vielbeschäftigkeit und Überlastung« (Adorno 2003a: 116). Heute ist sogar die Freizeit im Stress.

Menschen betreiben »Selbsterhaltung ohne Selbst« (ebd.: 115) und beantworten die Frage »Wer bist du?« mit ihren Berufen. Weil Bildung im Zuge der Integration zum Besitz von Bildungsgütern geworden ist, ist der »Geist von Halbbildung auf den Konformismus vereidigt« (ebd.). Bildung hat keinen Weg der Erfahrung mehr, wäre ebendieser jedoch entscheidend für ihre Wahrheit, wie der Beitrag mit dem passenden Titel »Universität ohne Erfahrungen« in diesem Sammelband erkennbar macht.

Die eigene Identität wird zum Projekt, das eigene Sein in Kategorien ein- und ihnen untergeordnet. Wenn aber Identität nur noch das ›Haben‹, nie das Erfahren beinhaltet, können sich Menschen nur noch dem Prinzip der Äquivalenz anpassen. In ihr liegt der Fluch der Vergleichbarkeit, der die Besonderheit, den Menschen ihre Individualität nimmt. Alles ist immer durch ein Anderes vermittelt und nie ein für sich Seiendes, nichts ohne Gegenüber, an dem sich sein Wert misst.

So ist das ständig überforderte, erdrückte Individuum in allem, was es ist, tut, sagt und anzieht, einem Wettkampf ausgesetzt ist. Die Verwobenheit von Identität und Kapitalismus bedeutet, dass das Prinzip der Konkurrenz allgegenwärtig ist. Das ist zerfressend: Die Konkurrenz bestimmt die Oberfläche, das Aussehen, das Auftreten, den Ausdruck. Sie bestimmt das Innen, die Zweifel, die Schuld, die Scham. Sie bedeutet: Sich in einem Raum zu bewegen, dessen Regeln nie aufgeschrieben, nur mit Härte durchgesetzt werden, die einen ›cool‹ machen und ›richtige‹ Dinge sagen lassen. Bedeutet, sich gegenüber Menschen zu verteidigen, zu rechtfertigen, zu erklären, die keine Fragen stellen, aber von ihren Erfolgen, ihrer Herkunft, ihrer Erfahrung erzählen. Denn alles beherrschend ist der Vergleich, der ver-, be- und ausmisst: Die getrunkenen Milliliter auf den Flaschen in den Bibliotheken, die gelaufenen Schritte, die noch zu lernenden Karten und Zettel, die zu absolvierenden Veranstaltungen, die übrig gebliebenen Versuche für das Bestehen der Klausur, die Fach- und Hochschulsemester, der Notendurchschnitt, die in Schritte unterteilte Karriere. Die Zahl als Kanon der Zeit (Horkheimer/Adorno 2003: 13). Das Messen miteinander muss immerzu betont, die Konkurrenz in Worte gegossen werden: Im Glauben an Informiertheit als Bildung, im Besserwissen-Wollen durch aggregiertes Wissen, im Schulterschluss zwischen Halbbildung und Ressentiment, in der zur Schlauheit degradierten Kritik, die bloß dem eigenen Vorwärtskommen dient (Adorno 2003a: 115f.).

In der Universität bedeutet das Messen: Welchen Abschluss hat wer wo erhalten, wie ist der Schnitt, wie viele absolvierte Praktika, wie viele beruflich wertvolle Nebenjobs, wie viel Engagement und Ehrenamt, wie viele Zertifikate, Preise und Empfehlungsschreiben, Arbeitsproben, Projektarbeiten und wie viele Kontakte im Netzwerk können gezählt werden. Der Aufzählung steht der Erfolg, die Karriere, das Erreichte gegenüber. So bietet Halbbildung den Menschen eine Ersatzerfahrung an, anstatt die zerfallene Erfahrung der verhinderten Bildung offenzulegen, zu formulieren und veränderbar zu machen (ebd.: 118)

Dass Bildung an Universitäten keine Erfahrung anbietet, dass die Anpassung an ihre Organisiertheit das Rezept zum Durchkommen ist, ist Universitäten selbst nicht bewusst. Sie schmücken sich mit Leitbildern, die Autonomie und Partizipation versprechen, während die zahlenmäßig mit Abstand größte Gruppe der Studierenden in den Gremien durch die professorale Mehrheit überstimmt wird. Sie erzählen von der Bildung mündiger Bürger*innen und kritischer Studierender, die sich in endlosen Feedback-Schleifen wiederfinden oder als Protestierende von ihrer eigenen Universität per Polizeieinsatz geräumt werden. Sie deklarieren sich als divers, während sie Geschlechterungerechtigkeiten von der Führungsetage bis in die von ihnen beanspruchten Dienstleistungsunternehmen reproduzieren oder ihnen ›Diversität‹ als Persilschein für diskriminierende Forschung dient. So tragen sie zur Veränderung des Verständnisses großer Begriffe wie Wahrheit, Freiheit und Kritik bei, verschieben Diskurse, umgehen Verantwortung, ersticken den Widerspruch. Die neoliberale Universität, gemanagt nach Zahlen, ausgerichtet auf Ziele, die Auszeichnungen einsammelnd, ist in ihrem eigenen Handeln und Wirken selbst von Halbbildung durchzogen.

Und hier zeigt sich wie an vielen anderen Stellen und Beispielen das fast unmöglich zu Greifende der Organisierten Halbbildung. An ihren Begriff selbst heranzukommen, unterwirft jeden Versuch eben den Lehren der Halbbildung, denen es zu auszuweichen gilt: das Definitorische, das Linear-kausale, die Idee des einen Ursprungs. Es gilt, etwas begreifen zu wollen, dessen Begreifen nur in den Schubladen geschieht, die es überwinden will, während sein Wesen unaufhörlich nach einem greift. Das zeigt nur, mit welcher Übermacht das Netz der Halbbildung uns umspannt. Adorno sprach schon 1959 von der totalitären Gestalt der Halbbildung, die kein Außerhalb von ihr zulässt (Adorno 2003a: 103).

Im Wissen um eben dieses Wirken der Halbbildung auf alles Sein und Denken, um das Instrument der Integration, das Versprechen der Freiheit und damit des freien Denkens, das nie verwirklicht wurde, bleibt mir als Autorin nur zu sagen: Auch dieser Text entsteht im Netz der Halbbildung selbst. Er kann schon deswegen nur unzureichend sein, weil alles Schreiben innerhalb dessen stattfindet, was mir zu sein scheint, was ich gelernt habe, wie ich sozialisiert, was mir beigebracht wurde, wer mich geprägt hat.

Um aber der Bildung, ihrem Wandel, ihrem verlorenen Anspruch, ihrer Realität heute nahezukommen, ist festzuhalten: Sie hat »keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde« (ebd.: 121). Hören wir also denen zu, denen sie widerfährt. So sind die nächsten 300 Seiten der Versuch, etwas zu begreifen, was schwer zu fassen ist; etwas zu beschreiben, was die Realität von Millionen von Menschen ist, hinter denen je ein einzelnes und ganzes Leben steckt. Denn, um zu erkennen, was Bildung sein könnte, wenn sie keine Halbbildung wäre, muss erst das Wesen der Halbbildung greifbar werden. In ihr liegt das Negativ der Bildung. So ist dieses Buch selbst vielleicht der Konjunktiv der Halbbildung: Wir wollen an dem, was ist, ausmachen, was sein könnte.


Dieser Text ist eine unvollständige Vorabveröffentlichung des Textes „Was ist Organisierte Halbbildung“ aus dem Sammelband „Organisierte Halbbildung. Studieren 25 Jahre nach der Bologna-Reform“. Das Buch erscheint voraussichtlich im August 2024 im trancript-Verlag, eine Vorschau ist hier zu finden.

Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W., Max Horkheimer (2019 [1944]). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Adorno, Theodor W. (1959). Theorie der Halbbildung, in: A. Busch (Hrsg.), Soziologie und moderne Gesellschaft: Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages vom 20. bis 24. Mai 1959 in Berlin, Stuttgart: Ferdinand Enke, S. 169-191.

Horkheimer, Max (1985). Begriff der Bildung, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Band 8. Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. Hg. v. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 409-419. 

Kant, Immanuel (1977 [1784]). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Werkausgabe Band XI. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 51-61.

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