Was ist Organisierte Halbbildung?

Wer ein Theaterstück zur Hälfte aufführt, realisiert nicht die Hälfte seines Gehaltes, sondern lässt es sinnbefreit verklingen. In diesem Sinne will Theodor W. Adorno seine Theorie der Halbbildung verstanden wissen, denn sie ist keine verkürzte, keine halbe Version von Bildung. Sie ist ihre Verkümmerung – und nach unserer Auffassung heute im neoliberalen Universitätssystem allgegenwärtig. Halbbildung sah Adorno beim Verfassen 1959 als „Signatur des Zeitalters“, die keinen Anspruch auf die Sublimierung aller Menschen erhob, sondern eine Tendenz umfassen sollte (Adorno, 1959: 176). Seitdem sind die Bildungssysteme einem grundlegenden, neoliberalen Wandel unterzogen worden, der an den Hochschulen seinen Höhepunkt unter dem Namen der Bologna-Reform erhielt. Was hierbei wortwörtlich verkauft wurde, ist Bildung – in ihren viel zitierten und wenig praktizierten Ansprüchen der Autonomie, Mündigkeit und Vernunft, die aus der Zeit der Aufklärung stammen. Adorno hat dieses Nichteinlösen schon 1959 diagnostiziert, geht jedoch darüber hinaus davon aus, dass auch die Aufklärung nie ihrem eigenen Ideal entsprechen, so in ihrer Konsequenz nie zu einer freien Bildung führen konnte. Aber: hätte führen können. Die Gegenwart verwehrt uns wahre Bildung, der Konjunktiv lässt ihre Existenz denken und verwirklichen. Und beherbergt somit ihre eigene Emanzipation, denn es ist Zeit, „an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog“ (ebd.: 191).

Dieses Vorhaben verlangt eine Systematik: So stellt dieser Text den Versuch dar, sich anhand von Adornos These zur Halbbildung seinem Verständnis von Bildung in der westlichen Welt anzunähern, um sie inhaltlich zu füllen. Und wird letzteres – so viel sei vorweggenommen – nur in unbefriedigender Weise erfüllen können. Zugleich ist der Text mit diesem Unvermögen einer der Schauplätze des Kampfes um die Bestimmung von Bildung, die laut Adorno nicht durch ihre klare Definition und Quantifizierung, sondern durch „Erfahrung, die Kontinuität des Bewußseins, in der das Nichtgegenwärtige dauert“, lebt (ebd.: 186). Und sich so gegen eine Begrenzung und Kategorisierung wehrt. Da die Definition von Begriffen vor allem einer „intellektuellen Sicherheit“ dienen, verwehrt sich auch Max Horkheimer, der für diesen Text ebenso eine Rolle spielen wird, einer Begriffsbestimmung von Bildung. Denn „der Prozeß der Klärung und Bestimmung der Begriffe ist nicht etwas, was der Erkenntnis vorangeht“, sondern geschieht, indem Menschen „die Begriffe selber auf Gegenstände anwenden und Akte der urteilenden, inhaltlichen Erkenntnis selbst vollziehen“ (Horkheimer 1952: 409f.). Auch Adorno sieht die Empirie nicht als Dienerin der Thesen, sondern die Suche nach ihrem Wahrheitsgehalt im Falschen, im Generalisieren, im Vorwagen einer Intuition nach – und verweigert sich damit ebenfalls dem heute allgegenwärtigen Fetisch für Zahlen und Vermessungen.

Verkaufte Bildung

Mit diesen Herangehensweisen ist das Wesen der Halbbildung nicht durch die steigende Anzahl von Studierenden, die damit einhergehende Akademisierung der Arbeitswelt und Differenzierung der Arbeitsteilung, die Zahl von Studiengängen oder den erweiterten Zugang zu Wissen zu erfassen, all diese Phänomene sind nur Konsequenz. Sie selbst zeigt sich vor allem in der Konstituierung von dem, was als Bildung verkauft wird. Die Aushöhlung spiegelt sich im Umgang der Menschen miteinander wider, im Glauben an Informiertheit als Bildung, im Besserwissen-Wollen durch aggregiertes Wissen, im Schulterschluss zwischen Halbbildung und Ressentiment, in der degradierten Kritik zur Schlauheit, die dem eigenen Vorwärtskommen dient. Bildung ist ein zu erwerbender, egoistischen Zwecken unterworfener Wert, der durch Prestige von Institutionen, von Abschlüssen, Zertifikaten und Auszeichnungen, scheinbar allen Menschen zugänglich ist. Ihr neoliberales Credo ist, dass jede*r ihres*seines eigenen Glückes Schmied ist. 

Und so ist das studentische Individuum heute fragmentiert in seinen Kompetenzen, es lernt entlang von Modulen, Leistungspunkten und Prüfungen. Ziel ist es, seine Verwertbarkeit in der Arbeitswelt sicher- und herzustellen. Die traditionellen Ansprüche der Bildung verkommen zu einem Pausbild ihrer Bedeutung, heißt Vernunft im Studium doch die effiziente Planung der Karriere, und Freiheit, zwischen Studiengängen, in manchen zwischen Seminaren zu wählen, oder Prüfungen in das nächste Semester zu schieben. Eine Scheinfreiheit, führen diese Entscheidungen doch immer direkt zu belohnenden oder strafenden Mechanismen der Universität oder Gesellschaft. Wer zu lange studiert, dem wird „Faulheit“ unterstellt, dem wird die finanzielle Unterstützung des Staates (BAföG) entzogen. Wer bei den „richtigen“ Dozierenden im Kurs sitzt, bekommt die Jobs angeboten, die Abschlussarbeit betreut oder Zugang zu ungemein wichtigen Netzwerken, wenn es um eine akademische Laufbahn geht. Das eigene Versagen, das Nicht-Können, Nicht-Wollen, die schlechte Note wie der falsche Studiengang sind nie strukturell zu begründen, das wäre eine Ausrede. Sie sind individuell zu verorten, die Verantwortung trägt der einzelne Mensch – stehen ihm doch alle Türen offen, hat er doch alle Chancen, flüstert die Welt. Die Ökonomisierung der Universität greift in alle ihre Subjekte und Räume hinein, verspricht ihnen Anerkennung, belohnt die, die schneller, höher, besser sind. Verloren dabei ist, dass das Studium „zur reicheren Entfaltung der menschlichen Anlangen, zu einer angemessenen Erfüllung der eigenen Bestimmung die Gelegenheit“ bieten soll, wie Horkheimer 1952 in seiner Immatrikulationsrede erklärt (Horkheimer, 1952: 409). „Gebildet wird man nicht durch das, was man ‚aus sich selbst macht‘, sondern einzig in der Hingabe an die Sache, in der intellektuellen Arbeit sowohl wie in der ihrer selbst bewußten Praxis.“ (ebd.: 415)

Seit der Bologna-Reform noch sehr viel organisierter, ist im Studium heute kein Platz, die eigene Persönlichkeit, individuelle Fähigkeiten und Interessen, fernab von Zielen und Zwecken, getrennt von Karrieren und Prestige zu finden, zu formen. Aber war dafür jemals Platz? 

Das Bildungsideal 

Bildung führe – so das Ideal der Aufklärung – zu vernünftigen Menschen, die Freiheit für Einzelne und Autonomie für Gesellschaften erschafft. Ein Anspruch, den Bildung nach Adorno bisher nicht einzulösen vermochte, stattdessen verbeiße man „sich in die von Anbeginn trügende Hoffnung, jene [Bildung] könne von sich aus den Menschen geben, was die Realität ihnen versagt“ (Adorno, 1959: 173).

Doch von vorne: Zurückgeht dieses Ideal auf das in der Aufklärung entworfene, vernunftgeleitete Individuum, das sich vor allem ins Kants berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ von 1784 wiederfindet: 

„Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Kant, 1977 [1784]: 53)

Doch statt diesem Anspruch gerecht zu werden, verband sich Aufklärung mit Herrschaft und verstrickte die Individuen in Zwangsverhältnisse. So wird Bildung ihrer Kritik(fähigkeit) beraubt, die sie im 18. Jahrhundert gegenüber den Verhältnissen hatte, verkommt zur Bejahung, Reproduktion, Wiederholung, ohne Eigenes. Diese historische Zeichnung von Bildung ist vor allem im Kontext der für die Kritische Theorie entscheidenden Reflexion und Selbstverständigung „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer zu verstehen. Darin gehen die Autoren im Sinne einer negativen Geschichtsphilosophie die gesamte Menschheitsgeschichte entlang, um sie zweizuteilen: Die Zeit vor der Aufklärung – als Mythos zusammengefasst – und nach der Aufklärung, beides jedoch den gleichen Logiken folgend. Die eine Zeit postulierte das Schicksal, gelenkt durch dem Menschen Unbekanntes, in seinen Ritualen, Bräuchen und Traditionen jedoch ebenso den Zugriff der Menschen auf die Welt ordnend, erklärend und organisierend, wie die mit der Aufklärung etablierten Prinzipien es tun. Die Epoche der Aufklärung verstehen Adorno und Horkheimer als zwanghafte Abwehr aller Mythen, eine in ihrem Wesen mythische Angst, wieder zurückzufallen in diese Zeit. Die Reaktion darauf ist Kontrolle, die bis heute wirkt: Menschen rationalisieren, bemessen, erfassen, machen nutzbar und nützlich, „die Zahl wurde zum Kanon der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer, 2019 [1944]: 13). Mit dieser Begegnung der Welt findet auch das Wissen seine Macht, denn „der Verstand, der den Aberglauben besieht, soll über die entzauberte Natur gebieten“ (ebd.: 10). Das Ziel der Menschen war und ist es, die Natur zu beherrschen, ihrer Kraft und Größe Einhalt zu gebieten – so begannen sie, sie durch das Wissen über sie zu erheben. „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen“ (ebd.). Wenn aber diese Fähigkeit der Herrschaft dem Menschen gehört, „sinkt die Scheidung von Gott und Mensch zu […] Irrelevanz hinab“ (ebd.: 15). Der Mensch hat also aufgegeben, sich Göttern unterzuordnen, erkennt ihre Konstruktion, will sodann aber gottesgleich werden und umgreift mit Härte die Welt, die Natur. Und dieses „Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen“ und schon hierin findet sich Entfremdung der Menschen von dem, über das sie herrschen (ebd.). Die Subjektwerdung als Befreiung von äußeren naturhaften Zwängen, später auch von klassischer Herrschaftinstanzen wie der Kirche oder dem feudalen Fürst, erfolgt über die Inanspruchnahme des Prinzips von Rationalität. Einmal für sich entdeckt, wendet der Mensch sie universell als Beherrschung über sich selbst, seinen Körper, seine Psyche an, ebenso gegenüber allem ihm Äußeren, der Gesellschaft, seiner Mitmenschen. 

Totalitäre Dialektik

Damit sind Aufklärung und Mythos keine Gegenpole mehr, sondern in sich verstrickt: „Die Mythologie selbst hat den endlosen Prozeß der Aufklärung ins Spiel gesetzt“ (ebd.: 17) – ein Gedanke, der in der Schlussfolgerung keine Herauslösung aus diesem Kreislauf ermöglicht, die Dialektik zwischen Aufklärung und Mythos, zwischen Befreiung und Herrschaft wird totalitär: „Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie“ (Adorno/Horkheimer, 2019 [1944]: 158).

Doch Aufklärung spiegelt sich auch in realhistorischen Veränderungsprozessen wie der französischen Revolution 1789 sowie der industriellen Revolution mitsamt ihrem technisch-rationalen Zugriff auf die Welt wider. In diesem Zusammenhang formulierte Wilhelm von Humboldt Anfang des 19. Jahrhunderts die noch heute unter dem Humboldtschen Bildungsideal bekannte Idee vom Menschen, der durch Bildung Mündigkeit erlangt und so ein vernunftgeleitetes Individuum wird. In dieses Konzept fiel Universität als Institution, die Bildung in Form von Bereichen wie Naturwissenschaften, Sprachen oder Geschichtswissenschaft organisierte. Jenseits dieser stärker zweckrationalen Konzeption galt Bildung weiterhin als Selbstzweck – sie wurde als allumfänglich begriffen, Expertise im Speziellen war nach Humboldt nicht allein ausreichend, die Menschen sollten eine breite Bildung erfahren. Infolgedessen würde der Einzelne durch seine Bildung Teil am Allgemeinen haben und zum Fortschritt einer nach humanistischen Standards agierende, freie und mündige Gesellschaft beitragen. Diese hehren Ziele der Aufklärung konnten und sind nie verwirklicht werden, wahre Emanzipation gelang nie, die westlichen Revolutionen scheiterten, konstatiert Adorno (Adorno, 1959: 170).

Die Aufklärung bringt in ihrem Verständnis der Welt auch eine Entzauberung und Bezugslosigkeit mit sich, die Menschen in Realismus und Rationalität meinen, wiedergefunden zu haben. Infolgedessen hat die traditionelle Bildung, die Adorno der Halbbildung voranstellt, ihren Geist verloren, stattdessen halten sich Menschen an einer „sich selbst zur Norm, zur Qualifikation gewordene[n], kontrollierbare[n]“ Bildung fest (ebd.: 179). Diese Entwicklung ist Folge von Druck: Bildung versprach Freiheit, wenn alle Menschen sie ergreifen können würden. Doch schon das Bürger*innentum versagte in seinen Emanzipationsbestrebungen darin, den Zugang allen zu ermöglichen, der Anspruch überlebte aber: Der Ausschluss vieler sollte durch eine diktierte Bildung (je nach historischer Zeit als Volksbildung, Allgemeinbildung oder Schulpflicht institutionalisiert) verringert werden, damit änderte sich jedoch nicht die Bildung der Menschen, nur der scheinbare Zugang. Das Bewusstsein der Menschen hingegen erhielt nie Zeit zum Erlernen von Autonomie, es ging „unmittelbar von einer zur anderen Heteronomie über; anstelle der Autorität der Bibel tritt die die des Sportplatzes, des Fernsehens“ (ebd.: 174).

Die sich anpassende Bildung

Scheinbar zugänglich passte sich das Wesen der Bildung denen an, die von Bildung ausgeschlossen waren und „die zu verändern erst Bildung gewesen wäre“ (ebd.: 175). Bildung hatte somit keinen Weg der Erfahrung mehr, sondern war dem Marktmechanismus unterworfen nur noch die Lehre vom Ergebnis – eine „neutralisierte, versteinerte Bildung“ (ebd.: 175), die den Verlust in sich trug und trägt, Autonomiegewinnung zu lernen und damit den Anspruch der emanzipierten und vernunftgeleiteten Gesellschaft einzulösen. Die Folge war ein Erstarren von Bildung, in deren Fahrwasser Größen wie Geist, Natur, Souveränität und Anpassung zu „fixierten Kategorien“ wurden, die im „Widerspruch zu dem ihr Gemeinten“ gerieten, so zur bloßen Ideologie verkamen (ebd.: 171). Das Individuum wusste und weiß um die Leere der Kategorien, erkennt die Anpassung der Bildung an sein Wesen, spürt, dass Halbbildung nur Schablonen anbietet, die Realität zu bewältigen. Es fühlt sich schuldig dem gegenüber, was es zu erfüllen versucht, das ihm jedoch nicht gelingt und scheitert an der sich darin befindenden Wahrheit, an das Bestehende und seiner Macht nicht mehr heranzukommen.

Den Halbgebildeten ist nicht greifbar, dennoch spürbar, dass sie ein ohnmächtiges Bewusstsein besitzen: So wird „[f]etischisiert, undurchdringlich, unverstanden […], was dem Subjekt als unabänderlich sich darstellt“ (ebd.: 188), die Verantwortung der objektiven, nicht zu greifenden Verhältnisse wird personalisiert. In der Anpassung spiegelt sich unmittelbar Herrschaft wider, die die Kontrolle des Subjekts als Selbsterhaltung gestaltet, ihm verbietet, „aus individueller Bestimmung übers Vorfindliche, Positive, sich zu erheben“ (ebd.: 171), stattdessen gelangen „Bildungselemente […] ins Bewußtsein […], ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden“. Doch „das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind“ (ebd.: 184).

Integration als Ideologie

Wieso aber geschieht dem Individuum dies, versprach die Aufklärung doch die Erhebung über die Verhältnisse, die Gestaltung eines freien und selbstbestimmten Lebens? Historisch betrachtet verhinderte das kapitalistische System „den Arbeitenden alle Voraussetzungen der Bildung, vorab Muße“ (ebd.: 173). Dieser Ausschluss konnte nie überwunden, nur verschleiert werden, die grundlegende Bedingung zur Bildung – Autonomie – „hat keine Zeit gehabt, sich zu formieren“ und alle Individuen zu erreichen (ebd.: 174). Doch während sich die Verhältnisse nicht änderten, tat es die Ideologie: „Sie verschleiert die Spaltung weithin auch denen, welche die Last zu tragen haben“, das System sponn ein Netz über sie (ebd.: 174). Das wichtigste Instrument: Integration. Als sich von oben vollziehend und nicht, indem Gesellschaft durch die Spontanität der Einzelnen alle Individuen integriert, wurde Bildung historisch nicht inkludierend, sondern als Halbbildung unter dem Begriff der Integration vergesellschaftet. So ist das bürgerliche und klassistische Narrativ, dass sich die Probleme dieser Welt und ihrer Menschen lösen würden, würden nur alle Menschen mehr lesen, wissen, lernen. Doch weil „Integration Ideologie ist, bleibt sie selbst als Ideologie brüchig“ (ebd.: 175).

Integration schaffte subjektiv Zugänge durch die Konsumierbarkeit von Bildungsgütern, um den Anschein der Bildung zu wahren. Diese Güter (schon im Wort zeigt sich der Zugriff des Marktmechanismus) sind jedoch nicht lebendig, existieren nicht durch die Erfahrung der Menschen, sondern werden als Summe ihrer selbst angehäuft und machen die Konsument*innen zu Ohnmächtigen, denen wiederholt jede Autonomie verweigert wird. So überdauern „im Klima der Halbbildung […] die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten.“ (ebd.: 176)

Integration bewirkte, dass den Individuen Kultur als Freiheit verkauft werden konnte. Sie nahmen sie, schrieben ihr einen Wert zu, den es zu erreichen gilt. Zugleich bewirkte Kultur die Anpassung der Individuen, muss doch das Chaos verhindert werden, das der autonome Geist auslösen würde. Kultur lebte wie Freiheit nie unabhängig von Gesellschaft, ihr Doppelcharakter verweist auf Gesellschaft und vermittelt zugleich zwischen Gesellschaft und Halbbildung. Sie dienten den Prinzipien der Aufklärung, die mit Hilfe beider Größen Gesellschaft strukturierten und in ihnen Herrschaft installierte. „Kulturell heißen darf, […] was vermöge der Integrität der eigenen geistigen Gestalt sich realisiert und nur vermittelt, durch diese Integration hindurch, in die Gesellschaft zurückwirkt, nicht durch unmittelbare Anpassung an ihre Gebote“ (ebd.: 191). Diesen freien Geist können Menschen in Bildung und Kunst entdecken, heute existiert davon größtenteils noch Halbbildung und in ihr der Geist der Kultur als misslungene Integration (ebd.: 177). Nirgends ist jedoch gesellschaftlich erzeugter, finanzieller Druck mit dem Freiheitsversprechen so eng verknüpft, wie bei Kunstschaffenden (auch hier spiegelt sich in der Sprache der Schaffenden der Marktmechanismus wider): Während Kunst zu machen Freiheit, Regellosigkeit, sogar Rebellion verlangt und verspricht, wirkt auf die Menschen der Druck der Gesellschaft, zeitgenössischen Ansprüchen von Ästhetik zu entsprechen, ebenso wie der Druck des kapitalistischen Systems, sich als Produzent*in von künstlerischen Werken zu verdinglichen. Wer mit ihrer*seiner Kunst keine Resonanz in der Gegenwart erzeugt, wird in der Zukunft zum verkannten Genie erkoren, das frei lebte und schuf; wer heute Anerkennung genießt, dessen Kunst ist nicht vom Kunstmarkt zu entkoppeln, fernab davon hängt Kunst das Manko der Auftragskunst ab. Der Verkettung von kapitalistischen und aufklärerischen – Geld und Freiheit – Versprechen ist schwer zu entkommen.

Autonomie immer greifbar, aber nie erreichbar

Das Individuum hingegen glaubt, seine eigene Integration sei gelungen, es hätte es geschafft. Es identifiziert sich mit dem, was es als Bildung versteht, erkennt nicht, dass es nur ihr Trugbild beherbergt. Und zeigt dies in seinem Handeln denen gegenüber, denen seiner Ansicht nach die Integration nicht gelang. So wird der „Emporkömmling“ für das Verwechseln von Fachwörtern gestraft und diejenigen als weniger klug betitelt, die nicht direkt, nicht schnell ihr Wissen abrufen können, es vielleicht sogar nicht haben können (ebd.: 177). Wissensshows, die unter Titeln wie „Wer weiß denn sowas“ und „Wer wird Millionär[in]“ erheben Wissen zum Prüfstein des Individuums, während es in Wahrheit selbst Produkt eines verdinglichten Bewusstseins ist.

Dabei sind Integration und Identifikation zwei Momente desselben Prozesses: Während Integration dem Individuum vorgegaukelt wird, identifiziert es sich mit dem, was Bildung zu sein scheint, lernt auswendig, sammelt Informationen, folgt auch hier dem Prinzip mehr ist immer besser. Gleichzeitig wird ihm wahre Bildung verwehrt. Halbbildung verweist als Negatives im Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft „auf die Möglichkeit realer Autonomie des je eigenen Lebens“, gleichzeitig verweigert sie dem Individuum diese Autonomie systematisch, lässt ihm nichts, an dem es sich bilden kann: „Mißlingen aber muß jene Identifikation, weil der Einzelne von der durch die Allherrschaft des Tauschprinzips virtuell entqualifizierten Gesellschaft nicht an Formen und Strukturen empfängt, womit er […] sich identifizieren, woran er im wörtlichsten Verstand sich bilden könnte“, so ist das Individuum unter der „Gewalt des Ganzen“ verdammt, „das Entformte“ zu wiederholen (ebd.).

So lautet die kapitalistische und ebenso aufklärerische Erzählung, die Individuen zu befreien. Ein Trugschluss, an dem die Menschen festhalten und sich verhalten, als seien sie frei und selbstbestimmt – ihr Kompass dafür ist Halbbildung, in ihr ruhend ein Kern von Bildung, die das eigenständige Denken lehrt und damit nicht nur das Individuum der eigenen Freiheit nahebringt, sondern auch zur Autonomie der Gesellschaft beiträgt, denn: „je heller die Einzelnen, desto erhellter das Ganze“ (ebd.: 172).

Dieser Text ist vorläufig und noch unvollständig, dient jedoch dem Einblick in unsere Analyse, dass das aktuelle Hochschulsystem nur Organisierte Halbbildung produziert – eine Diagnose, die unserem Buch „Organisierte Halbbildung. Studieren 20 Jahre nach der Bologna-Reform“ zugrunde liegen wird. Wenn du Interesse an einem Beitrag hast, findest du hier unseren Call for Paper.

Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W., Max Horkheimer (2019 [1944]). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Adorno, Theodor W. (1959). Theorie der Halbbildung, in: A. Busch (Hrsg.), Soziologie und moderne Gesellschaft: Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages vom 20. bis 24. Mai 1959 in Berlin, Stuttgart: Ferdinand Enke, S. 169-191.

Horkheimer, Max (1985). Begriff der Bildung, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Band 8. Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973. Hg. v. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 409-419. 

Kant, Immanuel (1977 [1784]). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Werkausgabe Band XI. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 51-61.

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